Dünen, Durst und Dromedare - unterwegs im Süden von Marokko
 
Trekkings mit Dromedaren vom Draa-Tal in die Sahara sind bei Zivilisationsflüchtlingen auf Zeit begehrt
Hatusch stülpt die Lippen zurück, zeigt seine braunen, gebogenen Zähne und stösst ein Grunzen des Protestes aus. Der junge Berber Jonas hat sich auf den Rücken des Dromedars gesetzt, das erst seine Hinterbeine, dann die Vorderbeine hochstemmt. Die drei weiteren, im Schatten einer Mauer ruhenden Dromedare erwartet dasselbe Prozedere. Die Augen geschlossen, stehen sie schicksalsergeben da.
Wir befinden uns im Berberdorf M‘Hamid am Saume der Sahara, einer Pioniersiedlung, bedroht von der vordringenden Wüste. Jonas arbeitet als Führer bei “Sahara-Trekking., einem Familienunternehmen mit Büro in Zagora, einem Städtchen 60 Kilometer nördlich und näher der Zivilisation. Fast surrealistisch wirkt das Ockergelb der Wilke mit den felsigen Klippen und den violetten Schatten in der Morgensonne. Die sandigen Ebenen gehen über in gelbe, wellige Dünen; Salvador Dali's brennende Giraffe würde perfekt in das Szenario passen.
M‘Hamid liegt im Süden des Draa-Tales, kaum zwei Karawanentage von der algerischen Grenze entfernt. Der Oued Draa ist der längste Fluss Marokkos, der von den Schneebergen des Hohen Atlas im weiten Bogen zum Atlantik führt. Viel Wasser verdunstet allerdings auf dem Weg in den Ozean, bewässert Dattelhaine oder versickert im Sand. Das breite, gewundene Bett des Draa-Flusses wirkt denn auch über weite Strecken wie eine ausgetrocknete Rüfe; künstliche Bewässerung aus Stauseen lässt die Wüste im Draa-Tal ergrünen.
Viele Berberfamilien leben hier in einer Landschaft, die die Reisenden an die Märchen von Tausendundeiner Nacht erinnert. Palmenplantagen wechseln ab mit Dörfern mit kubischen, fensterlosen Lehmbauten, kleinen Moscheen und bunten Marktplätzen, wo es nach Oleander, Datteln und Pfefferminze duftet. Immer wieder rücken Karawansereien mit Dromedaren ins Bild, die auf Zivilisationsflüchtlinge warten. Die genügsamen Höckertiere haben die Bezwingung der Sahara erst möglich gemacht, die Tiere durchquerten hochbeladen in wochenlangen Märschen wahrend vielen Generationen die lebensfeindliche Wüste von Mali bis Marokko.
Heute lehren die graziösen und in ihrer Duldsamkeit rührenden Tiere Touristen aus sogenannt hochzivilisierten Ländern die Lektion der Langsamkeit. Manche der Gäste sind nur Tage unterwegs, andere gar einen Monat lang. Wir haben sozusagen als „Einstiegsdroge“ eine zweitägige Expedition gebucht mit mehreren stundenlangen Happen und einer Übernachtung im Nomadenzelt.
 
Jonas spricht den lokalen arabischen Dialekt und ein paar Brocken Englisch und Französisch. Er wohnt mit seiner Familie in einem Dorf inmitten von Dünen, er wolle bald heiraten und Vater werden, sagt er. Ohne Einnahmen aus dem Tourismus könnte der Bauer, der mit Eltern und Geschwistern Schafe züchtet und Datteln erntet, die Ehe nicht ins Auge fassen, als Dromedarführer arbeitet er, sobald Kundschaft da ist, im Herbst bis in den Frühling; im Sommer immer ist die Sahara für Trekkings schlicht zu heiss. Vor dem Aufbruch hatte uns Jonas noch in einen bestimmten Shop, einen kleinen Bazar gelotst, um den Tagulmust zu kaufen, den langen Schal, den wir uns zum Schutz gegen die Sonne als Turban um den Kopf wickeln und dessen Enden Nase und Mund schützen. Wir tragen Leinenhemden und Jeans; Jonas und alle andern Berber sind in die Gandoura gehellt, das weisse oder indigoblaue Gewand der „blauen Männer“ der Sahara. Der Ladenbesitzer wollte uns - erfolglos - unbedingt auch zu „hommes bleus“ machen, uns eines der wallenden Berbergewänder andrehen, in denen wir so dämlich ausgesehen hatten wie Japaner in der Berner Tracht.
Grunzend und furzend sind also die vier Dromedare mit der schweren Last auf dem Rücken aufgestanden, vorne reitet unser Guide, dann folgt das Tier mit den Wasserflaschen, der Verpflegung und den Rucksäcken. Dahinter die beiden Touristen, schaukelnd auf dem Rücken der Wüstenschiffe. Die letzten Palmen von M‘Hamid verschwinden hinter Dünen, ein Raubvogel kreist, ein paar knorrige Ginster, Arganien und Wacholder kämpfen auf Dünen im heissen Wind gegen die vordringende Wüste.
Bhar-bela-wa nennen die Berber die Sahara, Meer ohne Wasser. Die Hitze ist trocken, der genial einfache Schal schützt hervorragend - und verbreitet eine Aura von Lawrence of Arabia. Rhythmisch, fast einschläfernd, laufen die Dromedare mit ihren perfekten, breiten Füssen durch den Sand. Die Bilder aus unserer überfüllten, verwirrenden Zivilisationswelt verblassen. Das Klingeln der Handys, eine ferne Erinnerung in der leeren, grossen, heissen Landschaft, die nur noch aus Himmel und Sand besteht. Am Horizont die Wanderdünen des Erg Chegaga, die wie gewaltige, stilisierte Wellen wirken, welche der Wind unmerklich verformt und bewegt.
Nach stundenlangem Trekking, mit Rast zur Erholung für Lasttiere und Reiter, erreichen wir das Zeltcamp. Jonas serviert einen Tajine im typischen Tongefäss, ein bekömmliches, in OlivenöI geschmortes Eintopfgericht mit Gemüse und Lammfleisch, das hier einfach himmlisch schmeckt. Wein ist verpönt bei den muslimischen Berbern, obwohl Marokko auch Wein produziert. Mit Hochgenuss lassen wir das Wasser durch die Kehlen rinnen. Nie mundet frisches Wasser besser als in der unendlich scheinenden, ausgetrockneten, heissen Landschaft.
Dann ein weiterer Langer Marsch auf dem Recken der Dromedare zu den riesigen Dünen, die wir begeistert erklettern. Vielsprachige Freudenrufe begleiten den Sonnenuntergang, eine Schar Gäste ist aus Zelten in der Nähe geströmt, einige sind mit Off-Roadern unterwegs, andere wandern und werden im Schlafsack übernachten. Bei rasch einbrechender Nacht erreichen wir unser Camp. Ein Lagerfeuer brennt in der kühlen, Nacht. Gegessen wird gemeinsam am Feuer bei Beduinenmusik. Es gibt erneut Tajine, diesmal mit Huhn.
Wir ziehen gegen Mitternacht die einfachen Matratzen vors Zelt, über uns der mit Sternen vollgesprenkelte pechschwarze Himmel. Jonas serviert zum Frühstück Kaffee, Tee und Fladenbrot mit Dattelkonfitüre, wofür er ein grosszügiges Trinkgeld bekommt.
Die Berber am Saume des Draa Tales gleichen irgendwie den Bergbauern in den Schweizer Alpen, die für einen Nebenverdienst an Bergführer, Skilehrer oder Chauffeure im Tourismus arbeiten und dennoch mit Leib und Seele Landwirte sind. Die grossen Familienclans besitzen Palmen, Orangen- und Zitronenbaume und Gemüsegärten, da werden Teppiche geknüpft und Decken gewoben, Dromedare, Schafe und Ziegen gezüchtet.
Von den gefährlichen Sandstürmen an den Weltbörsen hat man im Bannkreis der Dünen des Erg Chegaga noch kaum gehört. Einer der Berber in der Karawanserei fragt aber zum Abschied auf Französisch: „Stimmt das mit der Finanzkrise in Europa ? Bitte kommt bald wieder und nehmt eure Freunde mit. Hatusch und wir alle brauchen Arbeit.“ Mit uns kann er wieder rechnen.
Quelle: Basler Zeitung BAZ Kultur Magazin (Ausgabe vom 2.12.2008